Präsenz im Alltag

Vor einigen Tagen unterhielt ich mich mit meiner Frau und räumte nebenbei meinen Schreibtisch auf. Das passiert mir immer wieder: Ich mache zwei oder drei Sachen gleichzeitig, um „Zeit zu sparen“.

Als ich das bemerkte, atmete ich erst einmal durch. Früher gab es Zeiten, da bemerkte ich meine Unachtsamkeit noch nicht einmal. Es war für mich völlig normal, automatisch und unbedacht zu handeln. Zu bemerken, dass man unachtsam ist, aufzuhorchen, wenn man sich verliert, ist der entscheidende Augenblick von Präsenz und Gegenwärtigkeit.

Ein langer Weg

Ich beschäftige mich seit vielen Jahren intensiv mit diesem Thema.

Immer wieder geht es darum, vom ständigen Denken wegzukommen und durch die Wahrnehmung stärker in der Gegenwart zu leben.

Dazu eine kleine Geschichte:

Drei Schüler von verschiedenen Klöstern stritten sich darum, wer den berühmtesten Meister hat.

Der Erste: „Mein Meister vollbringt wahre Wunder. Er kann sogar übers Wasser laufen.“ Der Zweite: „Mein Meister schreibt auf der einen Seite des Flusses etwas in die Luft, und auf einer Tafel, die ein Schüler auf der anderen Flussseite hält, entsteht die Schrift – das ist ein wahres Wunder“.

Erwartungsvoll schauen die beiden den Dritten an. „Mein Meister vollbringt das größte erdenkliche Wunder. Wenn er isst, dann isst er, wenn er geht, dann geht er, wenn er schläft, dann schläft er.“

Diese Geschichte bringt es auf den Punkt.

Oft sind wir durch unser Denken in der Zukunft oder Vergangenheit.

Selten ganz in der Gegenwart. Dabei analysieren und bewerten wir vergangene Erlebnisse oder machen uns Sorgen um zukünftige Ereignisse.

Äußerst selten sind wir ganz in der Gegenwart. Wären wir das, könnten wir z. B. den Vogel wahrnehmen, der vor unserem Fenster sitzt. Oder den Geschmack von Kaffee ganz bewusst auf unserer Zunge schmecken oder dem Menschen auf der Arbeit unsere ungeteilte Aufmerksamkeit schenken.

 

Präsent sein im Hier und Jetzt in der eigenen Mitte

Echte Präsenz bedeutet, ganz im Hier und Jetzt und in der eigenen Mitte zu sein. Diese drei Zustände sehen wir uns nun etwas genauer an.

Im Hier sein

Jeden Tag begegnen wir Menschen, Situationen, Räumen, Bildern, Klängen… Und jede Begegnung löst irgend etwas in uns aus. Es entsteht sozusagen ein „Begegnungsraum“ in uns.

Dadurch sammeln sich im Laufe unseres Lebens unzählige solcher Räume an. Oft vergessen wir, die nicht mehr gebrauchten Räume auch wieder zu schließen.

Das kann eine vergangene Beziehung sein, eine frühere Arbeitsstelle, das Elternhaus….

Nur wenn wir alte Beziehungsräume, die nicht mehr mit Leben gefüllt sind, auflösen und loslassen, können wir unser Potenzial im Hier, in der Gegenwart erleben.

Im Jetzt sein

Vergangene Erlebnisse – belastende aber auch erfreuliche – bleiben oft in uns hängen.

Unsere Gedanken kreisen immer wieder um die vergangenen Erlebnisse. Auf diese weise wird Zeit in der Vergangenheit „eingefroren.“

Aber diese Zeitenergie fehlt dann in der Gegenwart. Überall dort, wo ich in Gedanken an der Vergangenheit hänge, kann ich nicht in der Gegenwart präsent sein.

Das kann auch mit der Zukunft geschehen. Wenn ich aus Vorfreude und Erwartung immer wieder in die Zukunft wandere, verschiebt sich meine Aufmerksamkeit. Ich bin nicht mehr im Jetzt.

Um wirklich präsent zu sein, muss ich meine inneren Verfestigungen in der Zukunft und Vergangenheit auflösen.

Die eigene Mitte

Für mich bedeutet in der eigenen Mitte sein, in mir zu ruhen und aus mir selber heraus wirksam zu werden.

Ein wunderbares Gefühl!

Diese Art der Anwesenheit ist eine der schönsten und natürlichsten menschlichen Qualitäten.

Bin ich wirklich gegenwärtig, fühle ich mich während des Tages gleich leichter und wohler.

Auch widrige Umstände werden leichter abgefedert: Ein grauer Regentag oder ein verspäteter Zug kann meine Stimmung dann nicht belasten. Ich empfinde in diesen Zeiten sogar eine Stärkung meines Immunsystems. Ich bekomme einfach keine Erkältung oder sonstige Maläsen. Ich fühle mich kreativer und empfänglicher. Meine Gegenwärtigkeit und Präsenz wird mir zur Energiequelle.

Präsent sein ist einfach

Wenn du jetzt mal ganz kurz deinen Blick von diesen Zeilen löst und dich in deinem Zimmer umschaust und tief durchatmest, wirst du diesen Moment ganz bewusst erleben. Du fühlst deine Präsenz, deine Anwesenheit.

Dafür musst du nichts weiter tun. Keine Therapie, keine Ausbildung, noch nicht einmal eine formale Meditation.

Präsenz ist mühelos und leicht.

Natürlich sind diese Momente eher kurz und flüchtig. Die üblichen Gedanken, Gefühle und Impulse fluten schnell wieder unser Bewusstsein.

Das ist ganz normal.

Aber wir können diese inneren Räume der Gegenwart erweitern. Es reicht, wenn wir zwischendurch immer mal wieder an sie denken. Verbunden mit einem bewussten Atemzug…

Mit der Zeit entsteht dadurch in uns eine Atmosphäre, die sich so anfühlt wie ein warmer Frühlingsmorgen. Wenn wir die Fenster öffnen und das Licht einströmt. Oder wenn wir nach einer längeren Reise wieder nach Hause kommen und alles viel bewusster wahrnehmen.

Alles wird viel lebendiger als vorher

Es geht jedoch auch anders

Auch ein Leben ohne Gegenwärtigkeit ist möglich. Menschliches Dasein kann auch ohne  Präsenz erlebt werden.

In uns gibt es nämlich zwei Bewusstseinsformen, die in ständiger Wechselwirkung miteinander stehen.

Die eine Form ist unser Geist.

Also alle inneren Bewegungen wir Denken, phantasieren, beurteilen, vorstellen, etc.

Die andere Bewusstseinsform ist unser Gefühl.

Dies sind unsere Erlebnisse, gemachte Erfahrungen, Instinkte, Gewissen, Gewohnheiten…

Beide Bewusstseinsformen, Geist und Gefühl, wirken wechselseitig aufeinander ein.

Unser Geist wirkt auf unsere Gefühlswelt ein und das Gefühl beeinflusst beständig unseren Geist. Es ist wie ein komplexes Programm, das ganz leichtläufig sein Eigenleben führt und unser ganz persönliches Dasein prägt.

Jeder Mensch hat somit seine ganz persönliche Art, die Welt zu erleben und auf das Leben zu reagieren.

Im Laufe der Zeit ist dadurch unsere Persönlichkeit und unsere ganz eigene Weltsicht entstanden. So stark und tief, dass wir uns mit ihr Identifizieren. Es ist eine geschlossene Einheit geworden, mit der wir uns und die Welt erleben. Egal, ob wir es als belastend oder schön empfinden, es ist ein in sich perfekt funktionierendes Regelwerk.

Je nach Wesen und Prägung halten wir uns lieber in den Räumen des Geistes oder den Räumen des Gefühls auf.

Das Eigelb

Stell dir ein Ei vor. In der Mitte das Eigelb. Bildlich gesprochen bist du das Gelbe vom Ei und deine Präsenz ist das Eiweiß.

Es gibt die Momente, in denen wir ganz wach sind. Wie ein Frühlingsmorgen, ein unbeschriebenes Blatt, wie ein dauernder Neuanfang, in dem alle Möglichkeiten offen liegen. Klar, rein, unschuldig, und offen.

Unsere Präsenz und unser Dasein existieren dann friedlich nebeneinander und miteinander.

In diesem Zustand fällt es uns leicht, etwas unnötiges oder Altes wegzulassen. Und es gelingt uns auf einmal, neues aufzunehmen. Es ist, als könnten wir uns neu erfinden.

Wir sind das Gelbe vom Ei. Unsere Gegenwärtigkeit verschwindet nie und deshalb muss sie auch nicht gesucht werden. Wir leben sie oft einfach nur nicht.

Andauernde Gegenwärtigkeit

Wir Menschen können ohne Energie Arbeiten gehen, ohne Liebe Beziehungen leben, ohne Lust Sex haben. Und wir können alt werden, ohne je präsent gewesen zu sein.

Menschliche Existenz ist möglich, ohne all diese Eigenschaften, denn jeder Mensch wählt das Dasein, welches für ihn passt.

Präsenz, Gegenwärtigkeit und Anwesenheit ist nicht schwer. Es ist unser Urzustand. Das Integrieren von Kraft, Freude, Lust und Liebe kann deutlich aufwändiger sein kann. Bis diese Kräfte in uns wirklich freigesetzt sind und in uns ungestört fließen können, sind oft lange Wege nötig.

Anders ist es mit unserer Präsenz: sie ist frei. Sie ist sofort da, wenn wir es wollen.

Wir können sofort anwesender sein, egal was wir tun.

Ob wir im Gespräch sind, oder im Garten sitzen, die Küche aufräumen, über etwas nachdenken oder traurig sind: Es kann zu unserer Angewohnheit werden, während dessen anwesender zu sein.

Wir können Präsenz in unserm Leben ganz spielerisch aufnehmen: Ein bewusster Atemzug und schon sind wir präsenter als vorher.

Dadurch weiten sich dann unsere Daseinsgrenzen. Waren wir vorher das Gelbe vom Ei, dann verwandeln wir uns durch Gegenwärtigkeit vielleicht zu einem sehr interessanten Rührei. Damit kann eine lange Reise zu Ende gehen. Denn dann sind wir ungetrennt beides:

Dasein und Präsenz.

 

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